Die rechtliche Gemengelage zur Abrechnung von geriatrischen und neurologischen Komplexbehandlungen muss zur Aufstellung des Krankenhaus-Jahresabschlusses 2018 beurteilt werden und es sind die notwendigen Schlussfolgerungen zur Passivierung von Rückstellungen für Rückzahlungsrisiken aus der Abrechnung der Komplexbehandlungen zu ziehen. Nachfolgende Ausführungen sollen den Aufstellern von Krankenhaus-Jahresabschlüssen dazu Hinweise an die Hand geben.
In den letzten Monaten wurden die Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) zur geriatrischen frührehabilitativen Komplexbehandlung einerseits (Urteil vom 19. Dezember 2017 – B 1 KR 19/17 R) und zur neurologischen Komplexbehandlung des akuten Schlaganfalls andererseits (Urteil vom 19. Juni 2018 – B 1 KR 38/17 R und B 1 KR 39/17 R)intensiv diskutiert. Darauf haben der Gesetzgeber im Pflegepersonal-Stärkungsgesetz (PpSG) vom 11. Dezember 2018, das Deutsche Institut für medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) mit Klarstellungen und Änderungen am 3. Dezember 2018 und die maßgeblichen Akteure im Gesundheitswesen am 6. Dezember 2018 mit einer Gemeinsamen Empfehlung (s. Spalte links) reagiert.
Grundsätzlich sind im Jahresabschluss Rückstellungen für die sich aus den Urteilen ergebenden Risiken dem Grunde nach dann zu bilden, wenn die Ansatzkriterien des § 249 Abs. 1 HGB erfüllt sind. Erst wenn der Ansatz einer Rückstellung dem Grunde nach bejaht wird, ist die Bilanzierung der Höhe nach zu beurteilen. Zunächst ist daher die Frage nach dem Rückstellungsansatz zu beurteilen: In Betracht kommt für die Abbildung der Rückzahlungsrisiken die Bildung einer Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten. Eine Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten ist nur zu bilden, wenn mit einer Inanspruchnahme ernsthaft zu rechnen ist, wenn also das Be- oder Entstehen der Verpflichtung wahrscheinlich ist. Nur wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mit einer Inanspruchnahme zu rechnen ist, darf eine Rückstellung nicht gebildet werden.
Nach dieser Definition ist (grundsätzlich) mit einer Inanspruchnahme zu rechnen bzw. das Entstehen einer Rückzahlungsverpflichtung wahrscheinlich, wenn die Voraussetzungen für die Abrechnung der Komplexpauschalen nicht vorliegen. Angesichts der Rechtsprechung des BSG, das in den oben genannten Urteilen neue Maßstäbe für die Abrechenbarkeit der neurologischen bzw. geriatrischen Komplexpauschale definierte, und der daraufhin von den Kostenträgern angekündigten Rückforderung/Verrechnung sämtlicher abgerechneter Komplexpauschalen war zeitweise mit einer Inanspruchnahme sehr wahrscheinlich zu rechnen und daher die Bildung einer Rückstellung obligat. Allerdings hat sich die Lage zwischenzeitlich entschärft. Grund dafür sind zum einen das zum 1. Januar 2019 in Kraft getretene PpSG und zum anderen die explizite Klarstellung durch das DIMDI als Reaktion auf die Rechtsprechung des BSG.
Bezüglich der neurologischen Komplexbehandlung hat das DIMDI im Hinblick auf das Mindestmerkmal der halbstündigen Transportzeit Ende des vergangenen Jahres klargestellt, dass die auf maximal 30 Minuten begrenzte Zeitspanne zwischen Rettungstransportbeginn und Rettungstransportende die Zeit ist, die der Patient im Transportmittel (z. B. im Hubschrauber) verbringt. Die Klarstellung ist rückwirkend gültig ab dem 1. Januar 2014. Das BSG hatte den Transportzeitraum anders ausgelegt und für den Beginn der Transportzeit auf den Zeitpunkt der Entscheidung, ein Transportmittel anzufordern, abgestellt.
Bezüglich der geriatrischen Komplexpauschale im Zusammenhang mit dem Mindestmerkmal der wöchentlichen Teambesprechung hat das DIMDI ebenfalls Ende des vergangenen Jahres klargestellt, dass nicht der Verlauf der Teambesprechung, sondern die Ergebnisse der Behandlung und die weiteren Behandlungsziele für den jeweiligen Patienten zu dokumentieren sind. Die Klarstellung ist rückwirkend ab dem 1. Januar 2013 gültig.
Ungeachtet der formaljuristischen Frage, ob bzw. inwiefern der Klarstellung durch das DIMDI Rechtswirkung zukommt, dürfte sich das Risiko einer tatsächlichen Inanspruchnahme durch die Kostenträger bei Nichterfüllung der vom BSG aufgestellten Anforderungen reduziert haben – insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich der GKV-Spitzenverband, die Bundesverbände der Krankenkassen, das Bundesministerium für Gesundheit und die Deutsche Krankenhausgesellschaft am 6. Dezember 2018 in einer Gemeinsamen Empfehlung dafür ausgesprochen haben, dass die Kassen ihre Klagen auf Rückzahlung von Komplexpauschalen zurücknehmen bzw. Forderungen, gegen die aufgerechnet worden ist, anerkennen. Im Ergebnis ist unverändert für den Einzelfall zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Abrechnung der Komplexpauschalen vollumfänglich erfüllt waren oder umgekehrt Gründe für den Ansatz einer Rückstellung vorliegen.
Die Bewertung der Rückstellung erfolgt gemäß § 253 Abs. 1 HGB mit dem nach vernünftiger kaufmännischer Beurteilung notwendigen Erfüllungsbetrag. Dieser Terminus impliziert, dass der voraussichtlich anfallende Rückzahlungsbetrag der Leistungen zu schätzen ist. Zu beachten ist diesbezüglich:
- Bei der Prüfung, ob im Rahmen der Komplexpauschale die Mindestmerkmale erfüllt wurden, ist danach zu dif-ferenzieren, ob es sich um ein behandlungsbezogenes Merkmal oder ein Strukturmerkmal handelt. Während es sich bei dem Mindestmerkmal der 30-minütigen Transportzeit im Rahmen der neurologischen Komplexbehandlung um ein Strukturmerkmal handelt, handelt es sich bei demjenigen der wöchentlichen Teambesprechung im Rahmen der geriatrischen Komplexbehandlung um ein behandlungsbezogenes Merkmal, das nur im Wege der Einzelfallprüfung überprüft werden kann. Das heißt, dass die Krankenkasse ein MDK-Prüfverfahren ordnungsgemäß eingeleitet und durchgeführt haben muss, um die Abrechnung überhaupt beanstanden zu können. Insofern können unseres Erachtens nur solche Behandlungsfälle beanstandet bzw. mit Rechnungskürzungen belegt werden, in denen ein MDK-Prüfverfahren innerhalb der 6-Wochen-Frist des § 275 Abs. 1c SGB V ordnungsgemäß durchgeführt wurde. Nur solche Fälle können insoweit in die Rückstellungsbewertung einfließen. Mindestmerkmale, die ein Strukturmerkmal darstellen, können grundsätzlich innerhalb der (nunmehr zweijährigen) Verjährungsfrist überprüft werden und bedürfen nicht zwingend einer Einzelfallprüfung.
- Die Verjährungsfrist wurde auf zwei Jahre herabgesetzt. Während diese Regelung für Ansprüche der Krankenhäuser nur prospektiv gilt, gelten die neuen Verjährungsfristen für Ansprüche der Krankenkassen auch rückwirkend. Zusätzlich wurde im Rahmen der gesetzlichen Verkürzung der Verjährungsfrist eine Ausschlussfrist für Ansprüche der Kostenträger eingeführt. Eine Rückforderung der Krankenkassen für Leistungen der Jahre 2014 bis 2016 ist danach nur möglich, soweit für diese bis zum 9. November 2018 verjährungshemmend Klage erhoben wurde. Nur solche Klagefälle fallen damit in die Bewertung der Rückforderungsansprüche 2014 bis 2016. Diesbezüglich spricht sich die Gemeinsame Empfehlung vom 6. Dezember 2018 allerdings, wie ausgeführt, für eine Rücknahme der Klagen aus. Ob sich die einzelnen Krankenkassen an die Gemeinsame Empfehlung halten, wird sich zeigen. Zumindest dürfte ihnen aber der Boden für Argumente, die ihr Rückforderungsbegehren stützen, angesichts der jüngsten Entwicklungen entzogen sein.
- Für die Bewertung der Rückstellung ist nur das tatsächliche Rückforderungsrisiko einzubeziehen. Regelmäßig ist davon auszugehen, dass dieses Risiko nicht in der Kürzung des gesamten Leistungsentgelts besteht, sondern sich lediglich auf die abgerechneten Zusatzentgelte beschränkt.
- Im Falle der geriatrischen Komplexpauschale hat bereits eine große Krankenkasse mitgeteilt, dass sie auf die Kür-zung bis zum Tag der Veröffentlichung des BSG-Urteils (16. April 2018) verzichtet. Es bleibt abzuwarten, inwieweit auch andere Krankenkassen diesem Beispiel bzw. der Ge-meinsamen Empfehlung folgen werden.
- Für die Bewertung der Rückstellungen ist zwischen wertbegründenden und werterhellenden Tatsachen zu unterscheiden. Während die Abrechnung von Leistungen wertbegründend wirkt und nur für zurückliegende Zeiträume in die Berechnung der Rückstellung einfließen darf, wirken alle zusätzlichen Erkenntnisse – wie eine geänderte Rechtsprechung, die Positionierung von Krankenkassen oder Klarstellungen des DIMDI – werterhellend. Diese Erkenntnisse dürfen bis zur Aufstellung des Jah-resabschlusses in die Bewertung einfließen. Es ist davon auszugehen, dass es in den nächsten Wochen zu weiteren Klärungen kommen wird. Auch diese Erkenntnisse können berücksichtigt werden.
Fazit
Die Wahrscheinlichkeit einer Inanspruchnahme durch die Kostenträger bei Nichterfüllung der vom BSG kreierten Abrechnungsvorgaben sowohl hinsichtlich der 30-minütigen Transportzeit als auch der wöchentlichen Teambesprechung dürfte angesichts der jüngsten Entwicklungen gesunken sein. Angesichts der rückwirkenden Klarstellung durch das DIMDI sowie der Gemeinsamen Empfehlung der Vertragspartner auf Bundesebene wird den Kostenträgern förmlich der Boden entzogen, Rückforderungen durchzusetzen oder Verrechnungen wirksam vorzunehmen. Etwaige im Einzelfall dennoch zu bildendende Rückstellungen im Zusammenhang mit der Erbringung von Komplexbehandlungen (z.B. wegen anhängiger Klageverfahren) sind mit den nach vernünftiger kaufmännischer Beurteilung notwendigen Erfüllungsbeträgen zu bewerten. Wir empfehlen, weitere aktuelle Entwicklungen bis zur Aufstellung des Jahresabschlusses abzuwarten. Diese dürfen in der Regel als werterhellende Tatsachen in die Bewertung der Rückstellungen mit einbezogen werden.