Befreiung eines Pflegeheimbetreibers von baulichen Vorgaben des Sonderordnungsrechts – ein bunter Flickenteppich

Die frühere Heimmindestbauverordnung (HeimMindestBauV) und die Nachfolgenormen auf Länderebene definieren für Pflegeeinrichtungen bestimmte bauliche Mindestqualitäten, etwa die Mindestgrößen der Zimmer oder das Verbot von Durchgangszimmern. Die Normen sehen die Möglichkeit der Befreiung vor (Dispens), die von der zuständigen Heimaufsichtsbehörde zu erteilen ist. Der Verwaltungsgerichtshof (VGH) Mannheim hat die Voraussetzungen mit Beschluss vom 4. September 2023 – 6 S 1106/22 – für das baden-württembergische Landesrecht konkretisiert.


Ein Einrichtungsträger in Baden-Württemberg betrieb seit 1994 eine Pflegeeinrichtung in einem denkmalgeschützten Gebäude aus dem Jahr 1914. 1994 galt noch die HeimMindestbauV; seit 2009 ist die baden-württembergische LHeimBauVO (BW) in Kraft. Die Bewohner waren mit der baulichen Situation in dem denkmalgeschützten Anwesen hochzufrieden. Gleichwohl: Kaum eines der Bewohnerzimmer erfüllte die Anforderungen der LHeimBauVO (BW). Von den 13 Doppelzimmer erreichte kein einziges die Mindestfläche von 22 m², die nach § 5 Abs. 4 LHeimBauVO (BW) nach einer Übergangsfrist von 10 Jahren seit 2019 auch für Bestandseinrichtungen vorgeschrieben ist. Auch die 17 Einzelzimmer erfüllten die Vorgaben der LHeimBauVO (BW) überwiegend nicht. Drei Zimmer waren Durchgangszimmer (diese waren bereits nach der früheren HeimMindBauV unzulässig). Zehn Einzelzimmer erreichten nicht die erforderliche Mindestfläche für Einzelzimmer (ohne Vorraum mindestens 14 m² bzw. mit Vorraum mindestens 16 m², § 3 Abs. 2 LHeimBauVO (BW)) oder sie wiesen nicht die in Baden-Württemberg vorgeschriebene lichte Raumbreite von 3,2 m auf (§ 3 Abs. 2 Satz 1 LHeimBauVO (BW)).

§ 6 LHeimBauVO (BW) lässt Befreiungen von baulichen Anforderungen zu. Voraussetzung ist erstens, dass die Erfüllung der Voraussetzungen technisch nicht möglich oder aus wirtschaftlichen Gründen nicht zumutbar ist, und zweitens, dass die Befreiung mit den Interessen und Bedürfnissen der Bewohner vereinbar sein muss. Der Denkmalschutz dagegen ist in Baden-Württemberg (anders als etwa in Nordrhein-Westfalen) kein Grund für einen Dispens von den baulichen Vorschriften.

Der Träger beantragte die Befreiung von den Anforderungen, was die zuständige Heimaufsicht ablehnte. Die Klage vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart blieb erfolglos. Das Verwaltungsgericht ließ die Berufung nicht zu. Der VGH Mannheim lehnte den Antrag des Trägers auf Zulassung der Berufung ab, befasste sich gleichwohl mit der Sache, um den Ablehnungsbeschluss zu begründen.

§ 124 Abs. 2 VwGO zählt fünf Gründe auf, weshalb eine Berufung vom VGH/OVG zuzulassen ist. Zentral ist der erste Grund, dass ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen. Der VGH hat dies verneint.

Das Verwaltungsgericht Stuttgart hatte sich gar nicht erst mit den Aspekten der technischen Unmöglichkeit oder wirtschaftlichen Unzumutbarkeit auseinandergesetzt, sondern direkt die Interessengerechtigkeit für die Bewohner geprüft. Der VGH hat diese Vorgehensweise unter Hinweis auf die Prozessökonomie bestätigt. Wenn der begehrte bauliche Kompromiss nicht interessengerecht ist – so der VGH – kommt es auf Fragen der technischen oder wirtschaftlichen Unmöglichkeit nicht an.

Sodann ist der VGH in die Prüfung der Interessen- und Bedürfnisgerechtigkeit eingetreten. Erstaunlicherweise hat er nicht auf subjektive Aspekte abgestellt (die Bewohner der Einrichtung waren mit ihrer Wohnsituation in dem denkmalgeschützten Anwesen hoch zufrieden), sondern auf einen verobjektivierten Maßstab. Auch der vom Träger vorgebrachte Hinweis, dass die Bewohnerinteressen geradezu ins Gegenteil verkehrt würden, wenn von den Bewohnern sehr geschätzte Alteinrichtungen – wie hier ein denkmalgeschütztes Anwesen – schließen müssten, überzeugte den VGH nicht. Der VGH bestätigte die Auffassung des Verwaltungsgerichts: Die Möglichkeit des baulichen Dispenses diene nicht dazu, die unteren Verwaltungsbehörden im Fall struktureller Defizite zu ermächtigen, die Vorgaben der Landesheimbauverordnung herabzusetzen.

Durch die Verobjektivierung des Tatbestandsmerkmals der Interessen und Bedürfnisse der Bewohner hat der VGH Mannheim dieses Kriterium letztlich entwertet. Denn wenn nur objektive Kriterien gelten, geht es am Ende nur noch um die Mindest-qm-Werte, und es mag eine Abweichung allenfalls dann geben, wenn es minimale Größenabweichungen gibt.

In Bundesländern, in denen auch der Denkmalschutz als Anlass für einen möglichen Dispens im Gesetz steht (etwa in Nordrhein-Westfalen in § 13 Abs. 2 WTG), wären zusätzlich Denkmalschutzaspekte zu prüfen. Nach der Sichtweise des VGH Mannheim hätten diese sich gleichwohl einem verobjektivierten Bewohnerinteresse unterzuordnen, wären in der Praxis also kaum von Belang.

In Nordrhein-Westfalen müsste das Urteil indes anders ausfallen, denn § 13 Abs. 2 WTG (NRW) fordert eine Abwägung mit den Interessen der Bewohner, so dass eine absolute Vorrangstellung dieses Kriteriums (wie es der VGH Mannheim sieht) in Nordrhein-Westfalen nicht pauschal angenommen werden kann.

Auch in allen weiteren Bundesländern ist im Streitfall die jeweilige Landesnorm zu prüfen. Der Beschluss des VGH Mannheim kann jedenfalls nicht pauschal auf die Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte und Verwaltungsgerichtshöfe übertragen werden.

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