Auch nach der jüngsten Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts verbleibt Unsicherheit
Der 6. Senat des Bundesarbeitsgerichts (BAG) hat mit Urteil vom 19. Dezember 2018 – 10 AZR 231/18 – unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung für Teilzeitbeschäftigte im öffentlichen Dienst entschieden, dass ein Überstundenzuschlag erst ab Überschreiten der regelmäßigen Arbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten bezahlt werden muss. Ob dies das letzte Wort in dieser Sache ist, bleibt indes abzuwarten.
Der Streit um Überstundenzuschläge für Teilzeitbeschäftigte hat auch beim BAG eine längere Geschichte, insbesondere im Hinblick auf § 7 TVöD-K (gleich § 4 der Anlage 31 zu den AVR), der auszugsweise wie folgt lautet:
…
(6) Mehrarbeit sind die Arbeitsstunden, die Teilzeitbeschäftigte über die vereinbarte regelmäßige Arbeitszeit hinaus bis zur regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von Vollbeschäftigten (§ 6 Abs. 1 Satz 1 bzw. Abs. 1.1 Satz 1) leisten.
(7) Überstunden sind die auf Anordnung des Arbeitgebers geleisteten Arbeitsstunden, die über die im Rahmen der regelmäßigen Arbeitszeit von Vollbeschäftigten (§ 6 Abs. 1 Satz 1) für die Woche dienstplanmäßig bzw. betriebsüblich festgesetzten Arbeitsstunden hinausgehen und nicht bis zum Ende der folgenden Kalenderwoche ausgeglichen werden.
(8) Abweichend von Absatz 7 sind nur die Arbeitsstunden Überstunden, die
[…]
c) im Falle von Wechselschicht- oder Schichtarbeit über die im Schichtplan festgelegten täglichen Arbeitsstunden einschließlich der im Schichtplan vorgesehenen Arbeitsstunden, die bezogen auf die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit im Schichtplanturnus nicht ausgeglichen werden, angeordnet worden sind.
Der 10. Senat des BAG hatte noch mit Urteil vom 26. April 2017 – 10 AZR 589/15 – angenommen, mit einer tarifvertraglichen Bestimmung, die den Anspruch auf Mehrarbeitszuschläge allein davon abhängig mache, dass über ein bestimmtes Tages- oder Wochenarbeitsvolumen hinaus gearbeitet werde, werde im Wesentlichen der Zweck verfolgt, eine grundsätzlich zu vermeidende besondere Arbeitsbelastung durch ein zusätzliches Entgelt auszugleichen. Ohne Anhaltspunkte im Tarifvertrag könne nicht davon ausgegangen werden, dass es den Tarifvertragsparteien darum gehe, durch Verteuerung der über die individuell geschuldete Arbeitsleistung hinausgehenden Arbeitszeiten den individuellen Freizeitbereich zu schützen.
Gleichwohl hatte wenige Tage zuvor der 6. Senat des BAG mit Urteil vom 23. März 2017 – 6 AZR 161/16 – entschieden, dass bei sogenannten ungeplanten Überstunden im Sinne von § 7 Abs. 8 lit. c) Alt. 1 TVöD-K, die über die tägliche Arbeitszeit hinaus abweichend vom Schichtplan angeordnet werden, den betroffenen Arbeitnehmern der Überstundenzuschlag zusteht. Mit einem Überstundenzuschlag werde allein der Umstand belohnt, dass Arbeitnehmer ohne Freizeitausgleich mehr als vertraglich vereinbart arbeiteten und dadurch planwidrig die Möglichkeit einbüßten, über ihre Zeit frei zu verfügen. Dies sei der Fall, wenn Überstundenzuschläge für die Arbeitsstunden zu bezahlen seien, die über die regelmäßige Arbeitszeit einer Vollzeitkraft in den Grenzen des Arbeitszeitgesetzes hinausgingen und bis zum Ende der folgenden Kalenderwoche nicht ausgeglichen seien. Die Tarifvertragsparteien hätten die Belastung der zeitweisen Überschreitung der Arbeitszeit eines Vollzeitbeschäftigten nur unter der Voraussetzung eines rechtzeitigen Freizeitausgleichs hingenommen.
Mit Urteil vom 19. Dezember 2018 – 10 AZR 231/18 – stellte der 10. Senat des BAG dann fest, dass eine tarifvertragliche Bestimmung, nach der ein Anspruch auf Mehrarbeitszuschläge erst besteht, wenn die für eine Vollzeittätigkeit maßgebliche Stundenzahl überschritten wird, gegen § 4 Abs. 1 TzBfG verstößt und damit unwirksam sei.
Mit Urteil vom 15. Oktober 2021 – 6 AZR 253/19 – teilte der 6. Senat nun mit, dass er an seiner bisherigen, ausschließlich auf den nicht gezahlten Überstundenzuschlag gerichteten Rechtsprechung (BAG, Urteil vom 23. März 2017 – 6 AZR 161/16, siehe oben) ebenso wenig festhält wie an der in dieser Entscheidung getroffenen Auslegung des Überstundenbegriffs des § 7 Abs. 8 lit. c) TVöD-K im Falle von Wechselschicht- oder Schichtarbeit. Die danach erforderliche Differenzierung zwischen geplanten und ungeplanten Überstunden weiche von der nach § 7 Abs. 7 TVöD-K geltenden Grundregel, nach der nur ungeplante zusätzliche Stunden Überstunden werden können, ab, ohne dass ein solcher Regelungswille der Tarifvertragsparteien im Normtext ausreichend Niederschlag gefunden habe. Der TVöD-K enthalte für den Freizeitausgleich und die Vergütung von Stunden, die Teilzeitbeschäftigte ungeplant über ihre vertraglich vereinbarte Arbeitszeit hinaus erbringen, eigenständige Regelungen, die sich so sehr von den Regelungen zum Entstehen, dem Ausgleich und der Vergütung von Überstunden bei Vollbeschäftigten unterscheiden, dass keine Vergleichbarkeit mehr gegeben ist. Mit dieser Differenzierung haben die Tarifvertragsparteien ihren durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisteten Gestaltungsspielraum nicht überschritten. Deshalb diskriminieren die für Teilzeitbeschäftigte geltenden Regelungen diese nicht und sind wirksam. Die sowohl für Voll- als auch für Teilzeitbeschäftigte maßgebliche Sonderregelung in § 7 Abs. 8 lit. c) TVöD-K zur Entstehung von Überstunden bei Beschäftigten, die Wechselschicht- oder Schichtarbeit leisten, verstoße jedoch gegen das Gebot der Normklarheit und sei deshalb unwirksam.
Ist der 6. Senat des BAG – überspitzt formuliert – für den TVöD zuständig, erging die Rechtsprechung des 10. Senats zu einer Regelung im Manteltarifvertrag für die Systemgastronomie. Beim BAG gibt es aber auch noch den 8. Senat, der unter anderen zuständig ist für Ansprüche aus § 15 Abs. 2 AGG, nach dem wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, der Beschäftigte eine angemessene Entschädigung in Geld verlangen kann.
Mit Beschluss vom 28. Oktober 2021 – 8 AZR 370/20 (A) – befasste sich der 8. Senat des BAG mit der Klage einer Arbeitnehmerin, die für einen Dialyseanbieter in Teilzeit tätig war und deren Stundenkonto Überstunden verzeichnete. Nach dem in Bezug genommenen Tarifvertrag sind zuschlagspflichtig mit einem Zuschlag von 30 % Überstunden, die über die kalendermonatliche Arbeitszeit eines vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers hinaus geleistet werden und im jeweiligen Kalendermonat der Arbeitsleistung nicht durch Freizeitgewährung ausgeglichen werden können. Die Klägerin begehrte neben den Überstundenzuschlägen auch eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG, weil sie durch die Anwendung der tarifvertraglichen Regelung unzulässig als Teilzeitbeschäftigte gegenüber Vollzeitbeschäftigten benachteiligt werde. Zugleich werde sie als Teilzeitbeschäftigte mittelbar wegen des Geschlechts benachteiligt, denn ihre Arbeitgeberin beschäftige überwiegend Frauen in Teilzeit.
Der 8. Senat wandte sich nunmehr an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) mit der Frage, ob die einschlägigen europarechtlichen Regelungen so auszulegen sind, dass eine nationale tarifvertragliche Regelung, nach der die Zahlung von Überstundenzuschlägen nur für Arbeitsstunden vorgesehen ist, die über die regelmäßige Arbeitszeit eines vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers hinaus gearbeitet werden, eine Ungleichbehandlung von Vollzeitbeschäftigten und Teilzeitbeschäftigten enthält.
Fazit
Arbeitgeber werden angesichts dieser unklaren und widersprüchlichen Entscheidungen zu einem überaus praxisrelevanten Thema völlig allein gelassen. Die Zuschlagspflicht von Überstunden ist angesichts der oben dargestellten Entscheidungen unklarer denn je. Ob die Antwort des EuGH Rechtssicherheit bringen wird, bleibt abzuwarten. Mit einer Entscheidung ist indes nicht vor Ablauf eines Jahres zu rechnen.