Krankenhäuser sollten das ambulant-sensitive Potenzial sorgfältig analysieren
Die Verlagerung stationärer Behandlungen in den ambulanten Bereich – auch als „Heben des ambulanten Potenzials“ bezeichnet – ist seit langem erklärtes Ziel der Gesundheitspolitik, wobei die Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV), die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) als Partner der Selbstverwaltung zum Teil unterschiedliche Interessen verfolgen. Während verschiedene Versuche des Gesetzgebers, die Ambulantisierung voranzutreiben, bislang wenig von Erfolg gekrönt waren, hat die Corona-Pandemie nun eine Entwicklung ins Rollen gebracht, die voraussichtlich dauerhaft mit der Umwandlung bestimmter bisher stationärer Fälle in ambulante Leistungen einhergehen wird.
Während die GKV mit der Ambulantisierung eine wirtschaftlichere Leistungserbringung anstrebt, steht für die DKG der drohende Verlust stationärer Budgetanteile ihrer Mitglieder im Vordergrund. Die entstehenden nicht unerheblichen Deckungslücken der Krankenhäuser bedürften der Kompensation, die in Teilen durch eine verstärkte ambulante Behandlung bisher stationärer Patienten und eine Ausweitung des ambulanten Versorgungsauftrages und entsprechender Budgets erfolgen könne. Die KBV wiederum hat als Vertretung der Vertragsärzte kein Interesse an einer Ausweitung der ambulanten Versorgung durch Krankenhäuser, die sich dann nicht nur auf die ehemals stationär versorgte Klientel beschränken würde. Auch wird für die Übernahme zusätzlicher ehemals stationärer Patienten eine Aufstockung des Budgets erwartet. Gleichzeitig deuten die allseits bekannten Wartezeiten insbesondere für komplexe und akute fachärztliche Versorgungen im vertragsärztlichen Bereich darauf hin, dass zusätzliche Kapazitäten für aktuell stationär behandelte Fälle nicht erwartet werden dürfen.
Verschiedene Versuche des Gesetzgebers, das ambulante Potenzial zu heben, haben keine durchschlagende Wirkung gezeigt. Dies gilt sowohl für restriktive Maßnahmen wie die zunehmend intensive Prüfung der ambulant-sensitiven Fälle durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen als auch für Anreize, wie sie zum Beispiel durch die ambulante spezialfachärztliche Versorgung (ASV) oder die Einführung von Medizinischen Versorgungszentren an Krankenhäusern seit 2006 geschaffen wurden.
Folgt man dem Krankenhaus Rating Report 2021, so beträgt die Anzahl der ambulant-sensitiven Fälle auf Ebene der Kreise zwischen 15.000 und 34.000 Fälle bezogen auf 100.000 Einwohner. Regionen mit eher geringer Bevölkerungsdichte weisen dabei gegenüber dichter besiedelten Gebieten eine deutlich höhere Rate auf. Insgesamt ist der Anteil der ambulant-sensitiven Fälle an allen vollstationären Fällen seit 15 Jahren weitgehend konstant und beträgt zwischen 6,2 % und 6,5 %, was circa 1,2 Millionen Fällen entspricht. Eine gemeinsame Analyse des RWI und der Technischen Universität Berlin zur Veränderung des Leistungsgeschehens der Krankenhäuser in der Corona-Krise ergab für das Jahr 2020 insgesamt einen Fallzahlrückgang um rund 13 % gegenüber 2019. Bei den ambulant-sensitiven Fällen war der Rückgang mit rund 18 % deutlich höher. Dies umfasste sowohl typische ambulant-sensitive Operationen wie beispielsweise Operationen von Leistenbrüchen als auch konservative Fälle, die typischerweise im Zusammenhang mit akuten Verschlechterungen chronischer Erkrankungen, zum Beispiel bei Diabetes, aufgenommen werden. Der stärkere Rückgang der ambulant-sensitiven Fälle erklärt sich insbesondere dadurch, dass diese Patienten auch in den durch niedrige Corona-Inzidenzen geprägten Sommer- und Frühherbst-Monaten des Jahres 2020 dem Krankenhaus überproportional fernblieben. Nach unserer Einschätzung ist in dieser Entwicklung ein dauerhafter Trend zur Ambulantisierung zu erkennen.
Eine tiefergehende, differenzierte Datenanalyse der Fallzahlveränderungen und insbesondere des ambulant-sensitiven Potenzials ist daher jedem Krankenhausträger als Grundlage für die mittelfristige postpandemische Unternehmensplanung dringend zu empfehlen. Dies schließt eine Analyse sowohl der klinischen Leistungsdaten als auch der Patientencharakteristika wie beispielsweise Pflegebedürftigkeit und eventueller Zuweisungsveränderungen ein. Ziel muss es sein, möglichst schnell zu klären,
- welche Portfoliosegmente nach der Pandemie gefährdet sein könnten,
- mit welchen konkreten Maßnahmen stationäre Leistungen zurückgewonnen werden können und
- welches ambulante Angebot gegebenenfalls als Alternative ausgebaut werden sollte.
Was hier möglich wäre, zeigt der Blick auf ein im Jahr 2021 abgeschlossenes Innovationsfondprojekt im Brandenburgischen Krankenhaus Templin. Hier wurde durch ein Ambulant Stationäres Zentrum (ASZ), in dem beinahe alle Fachabteilungen des Hauses ambulante Leistungen anbieten konnten, die Häufigkeit stationärer ambulant-sensitiver Fälle um 20 % reduziert. Überträgt man diesen Erfolg auf ganz Deutschland, so würden mindestens 250.000 Krankenhausbehandlungen eingespart werden – ein Ergebnis, von dem sich auch die Bundesregierung beim Aufstellen des Koalitionsvertrags inspirieren ließ. Mit den darin in Aussicht gestellten zukünftigen Hybrid-DRGs wäre genau dieser Effekt erzielbar. Die Pandemie mit ihren Fallzahlveränderungen hat gezeigt, dass die Patienten anscheinend bereit dazu sind.
Praxis-Hinweis
Für viele Krankenhäuser dürften die oben beschriebenen Entwicklungen mit einer grundlegenden Änderung der etablierten Strukturen, Prozesse und Geschäftsmodelle einhergehen. Um ambulante Leistungen zu erbringen, werden ganz andere Strukturen und Prozesse benötigt als für stationäre Leistungen (z. B. getrennte bauliche Strukturen). Um der Entwicklung bestmöglich begegnen zu können und diese idealerweise für sich zu nutzen, ist im ersten Schritt eine ganzheitliche Potenzialanalyse und Wirtschaftlichkeitsberechnung verschiedener Szenarien dringend zu empfehlen.