Nach wie vor bestehen rechtliche Unklarheiten bei der praktischen Anwendung
Bereits in unserem Artikel von Februar 2022 haben wir Sie über die „einrichtungsbezogene Impf- und Nachweispflicht“ für Pflege- und Gesundheitspersonal informiert, die im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie im Dezember 2021 durch den neuen § 20a des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) zum Stichtag 15. März 2022 eingeführt worden ist. Die gegen diese Regelung eingelegten Verfassungsbeschwerden wurden nun mit Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 27. April 2022 – 1 BvR 2649/21 – als unbegründet zurückgewiesen. Der Schutz der sogenannten vulnerablen Gruppen wiege verfassungsrechtlich schwerer als die Beeinträchtigung der Grundrechte für das Pflege- und Gesundheitspersonal, argumentierte der 1. Senat. Die einrichtungsbezogene Impf- und Nachweispflicht wird daher – vorbehaltlich gesetzgeberischer Änderungen – bis zu ihrem planmäßigen Auslaufen zum 31. Dezember 2022 in Kraft bleiben.
Trotz dieser verfassungsrechtlichen Klarstellung stellt die konkrete Anwendung der „einrichtungsbezogenen Impf- und Nachweispflicht“ sowohl betroffene Einrichtungen, Träger und Mitarbeiter als auch die Behörden vor erhebliche praktische Herausforderungen. Deutlich werden diese Anwendungsfragen des § 20a IfSG durch erste gerichtliche Entscheidungen, die zu teilweise völlig divergierenden Ergebnissen kommen.
Ungeklärt ist insbesondere weiterhin die Frage, wie mit sogenannten „Bestandsmitarbeitern“ umzugehen ist. Bestandsmitarbeiter sind all diejenigen Beschäftigten, die zum Stichtag 15. März 2022 bereits in einer von der „einrichtungsbezogenen Impf- und Nachweispflicht“ betroffenen Einrichtung tätig waren, aber den erforderlichen Impf- bzw. Genesenennachweis nicht bzw. nicht rechtzeitig erbracht haben.
In der Entscheidung des Arbeitsgerichts Gießen vom 12. April 2022 – 5 Ga 1/22 – wurde ein ungeimpfter Wohnbereichsleiter eines Seniorenheims ab dem 16. März 2022 durch seinen Arbeitgeber von der Erbringung seiner Arbeitsleistung freigestellt. Im Wege der einstweiligen Verfügung begehrte der Wohnbereichsleiter die vertragsgemäße Weiterbeschäftigung. Sein Arbeitgeber stellte sich demgegenüber auf den Standpunkt, dass § 20a IfSG eine Tätigkeitsvoraussetzung darstelle, nach der nur geimpfte und/oder genesene Mitarbeiter in den betroffenen Einrichtungen eingesetzt werden dürfen und der Wohnbereichsleiter daher ab dem 16. März 2022 einem Beschäftigungsverbot unterliege. Das Arbeitsgericht Gießen folgte der Auffassung des Arbeitgebers und begründete seine Entscheidung mit dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers, wonach in den betroffenen Einrichtungen keine Personen beschäftigt werden sollen, die nicht geimpft oder genesen sind. Zwar ergebe sich aus dem Gesetz ein explizites Beschäftigungsverbot nur für Neueinstellungen ab dem 16. März 2022, dies hindere den Arbeitgeber aber nicht daran, auch ungeimpfte Bestandsmitarbeiter freizustellen, um den Schutz vulnerabler Gruppen sicherzustellen. Die darüber hinausgehende Frage, ob der Mitarbeiter während der Dauer der Freistellung weiter zu vergüten ist, war nicht Gegenstand des Verfahrens und musste daher vom Arbeitsgericht Gießen nicht beantwortet werden.
Dieser Entscheidung des Arbeitsgerichts Gießen steht eine Entscheidung des Arbeitsgerichts Dresden vom 29. März 2022 – 9 Ga 10/22 – diametral entgegen. Das Arbeitsgericht Dresden gab dem Antrag einer ungeimpften Bestandsmitarbeiterin auf Erlass einer einstweiligen Verfügung auf Weiterbeschäftigung statt. In der Entscheidungsbegründung arbeitete das Arbeitsgericht Dresden die gesetzessystematischen Unterschiede zwischen „Bestandsmitarbeitern“ und „Neueinstellungen“ heraus und wies darauf hin, dass nur für Neueinstellungen, die weder einen Impf- oder Genesennnachweis vorlegen können, nach dem Wortlaut des Gesetzes ein gesetzliches Beschäftigungsverbot bestehe. Nur das zuständige Gesundheitsamt, nicht aber der Arbeitgeber, könne für Bestandsmitarbeiter ein Beschäftigungsverbot verhängen, da andernfalls die gesetzliche Differenzierung zwischen „Bestandsmitarbeitern“ und „Neueinstellungen“ sinnlos erscheine.
Fazit
Die beiden arbeitsgerichtlichen Entscheidungen ergingen im vorläufigen Rechtsschutzverfahren (sog. Eilrechtsschutz), in dem seitens der Gerichte lediglich eine summarische, nicht abschließende Prüfung der aufgeworfenen Rechtsfragen erfolgt. Ob hier Hauptsacheverfahren anhängig sind, ist uns nicht bekannt. Die Entscheidungen machen aber deutlich, dass die von uns in unserem Artikel vom 1. Februar 2022 aufgezeigten rechtlichen Unsicherheiten verbleiben und nunmehr von den Gerichten zu klären sind. Dabei bietet auch obengenannte aktuelle Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts für die praktische Anwendung des § 20a IfSG keine Hilfestellung. Vielmehr bestätigen die Verfassungsrichter die „Auslegungsbedürftigkeit“ des § 20a IfSG und kommen zu dem Ergebnis, dass die Rechtsprechung in der Lage sei, „das Gesetz in rechtsstaatlicher Weise anzuwenden“. Allerdings führt die rechtstaatliche Anwendung des § 20a IfSG – jedenfalls derzeit noch – zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen, wie die oben dargestellten arbeitsgerichtlichen Entscheidungen veranschaulichen. Betroffene Einrichtungen, Träger und Mitarbeiter werden voraussichtlich auch zukünftig mit rechtlichen Unsicherheiten konfrontiert sein.