Für die Einwilligung in einen ärztlichen Eingriff gibt es keine „Sperrfrist“

Ein Patient muss vor einem beabsichtigten Eingriff so rechtzeitig aufgeklärt werden, dass er durch hinreichende Abwägung der für und gegen den Eingriff sprechenden Gründe seine Entscheidungsfreiheit und damit sein Selbstbestimmungsrecht in angemessener Weise wahrnehmen kann. Diese Bestimmung sieht keine vor der Einwilligung einzuhaltende „Sperrfrist“ vor, deren Nichteinhaltung zur Unwirksamkeit der Einwilligung führen würde. Sie enthält auch kein Erfordernis, wonach zwischen Aufklärung und Einwilligung ein bestimmter Zeitraum liegen müsste. Dies hat der Bundesgerichtshof (BGH) in seinem Urteil vom 20. Dezember 2022 – VI ZR 375/2 – klargestellt.


Der Fall

Der Patient litt an chronisch rezidivierenden Ohrentzündungen und Paukenergüssen und wurde zur Abklärung auf eine mögliche Ohroperation in die HNO-Klinik des später von ihm verklagten Klinikums überwiesen. Dort wurde dem Patienten geraten, in einem ersten Schritt zur Optimierung der Nasenluftpassage die Nasenscheidewand begradigen und die Nebenhöhlen sanieren zu lassen. Vor dem geplanten Eingriff wurde der Patient von der Ärztin über die typischen Risiken des Eingriffs aufgeklärt, im Anschluss an das Aufklärungsgespräch unterzeichnete er das Einwilligungsformular. Drei Tage später wurde der operative Eingriff durchgeführt. Während der Operation trat eine stärkere arterielle Blutung auf. Nach der Operation war der Patient zunächst nicht erweckbar. Bei einer neurochirurgischen Intervention wurden eine Verletzung der vorderen Hirnschlagader und eine Durchtrennung des Riechnervs links festgestellt. Der Patient erhob Klage wegen angeblich fehlerhafter Behandlung und vermeintlich unzureichender Aufklärung. Erstinstanzlich wurde die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht Bremen sprach dem Patienten den Anspruch dem Grunde nach zu, da ihm keine ausreichende Bedenkzeit zwischen der Aufklärung und der Entscheidung über die Einwilligung gewährt worden sei (OLG Bremen, Urteil vom 25. November 2021 – 5 U 63/20). Der BGH gab der Klinik größtenteils Recht und hob das Urteil des OLG Bremen auf.

 

Die Entscheidung

Der BGH hob das Urteil des OLG Bremen auf und gab der Klinik größtenteils Recht. Die Bundesrichter verneinten einen Schadensersatzanspruch des Patienten. Der Patient habe nach ordnungsgemäßer und rechtzeitiger Aufklärung in den ärztlichen Eingriff wirksam eingewilligt. Dabei stellte der BGH noch einmal klar, dass ein Arzt grundsätzlich für alle den Gesundheitszustand des Patienten betreffenden nachteiligen Folgen haftet, wenn der ärztliche Eingriff nicht durch eine wirksame Einwilligung des Patienten gedeckt und damit rechtswidrig ist und den Arzt insoweit ein Verschulden trifft. Die Einwilligung sei in der vorliegenden Fallkonstellation aber nicht deshalb unwirksam, weil dem Patienten unter Verstoß gegen § 630e Abs. 2 Nr. 2 BGB keine Bedenkzeit zwischen der Aufklärung über die Risiken des Eingriffs und seiner Entscheidung über die Einwilligung in den Eingriff eingeräumt worden sei. Die Bestimmung enthalte kein Erfordernis, wonach zwischen Aufklärung und Einwilligung ein bestimmter Zeitraum in Form einer „Sperrfrist“ liegen müsse. Vielmehr kodifiziere sie die bisherige Rechtsprechung, der zufolge der Patient vor dem beabsichtigten Eingriff so rechtzeitig aufgeklärt werden muss, dass er durch hinreichende Abwägung der für und gegen den Eingriff sprechenden Gründe seine Entscheidungsfreiheit und damit sein Selbstbestimmungsrecht in angemessener Weise wahrnehmen kann. Zu welchem konkreten Zeitpunkt ein Patient nach rechtzeitiger Aufklärung seine Entscheidung über die Erteilung oder Versagung seiner Einwilligung treffe, sei seine Sache. Sehe er sich bereits nach dem Aufklärungsgespräch zu einer wohlüberlegten Entscheidung in der Lage, sei es sein gutes Recht, die Einwilligung sofort zu erteilen. Wünsche er hingegen noch Bedenkzeit, so könne von ihm grundsätzlich erwartet werden, dass er dies gegenüber dem Arzt kommuniziert und von der Erteilung einer – etwa im Anschluss an das Gespräch erbetenen – Einwilligung zunächst absieht. Tue er dies nicht, so könne der Arzt grundsätzlich davon ausgehen, dass der Patient keine weitere Überlegungszeit benötige.
 

Fazit

Die Entscheidung ist zu begrüßen. Die Anforderungen an eine „rechtzeitige“ Aufklärung, damit der Patient seine Entscheidung über die Einwilligung „wohlüberlegt“ treffen kann, dürfen nicht überspannt werden. Vielmehr darf von einem mündigen Patienten erwartet werden, dass er Zweifel hinsichtlich des geplanten Eingriffs im Aufklärungsgespräch zum Ausdruck bringt und sich dann Bedenkzeit für seine Entscheidung einräumt. Tut er dies nicht, so kann der Arzt grundsätzlich davon ausgehen, dass er keine weitere Überlegungszeit benötigt. Starre Fristen für die Zeit zwischen der Aufklärung und der Einwilligung hat der Gesetzgeber bei Einführung des § 630e Abs. 2 Nr. 2 BGB bewusst nicht festgelegt, um die notwendige Flexibilität nicht unnötig einzuengen. Gleichzeitig sollte allerdings mit Blick auf die Gesetzesbegründung darauf geachtet werden, dass eine Aufklärung erst am Vorabend der Operation – je nach Kenntnissen des Patienten – in der Regel zu spät sein wird. Ärzte sind für eine Einschätzung gut beraten, wenn sie sich im Einzelfall die Frage stellen, ob der Patient unter den jeweils gegebenen Umständen noch ausreichend Gelegenheit hat, sich innerlich frei („wohlüberlegt“) zu entscheiden.

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