Bundessozialgericht präzisiert Anforderungen an Pflegesatzverhandlungen in der stationären Altenhilfe

Obwohl seit dem Grundsatzurteil des Bundessozialgerichts (BSG) zur Pflegesatzverhandlung (BSG, Urteil vom 29. Januar 2009 – B 3 P 7/08 R) viel Zeit vergangen ist, besteht hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung der Schiedsstellenverfahren immer wieder Klärungsbedarf. Am 19. April 2023 hat das BSG die Rechtsprechung zur sozialen Pflegeversicherung in drei Urteilen nun weiter präzisiert. In allen drei Fällen wurde über die Höhe der Pflegesätze und Entgelte für stationäre Pflegeeinrichtungen gestritten.


Unternehmerrisiko (B 3 P 6/22 R und B 3 P 7/22 R)

Während der Vergütungsverhandlungen verständigten sich die Vertragspartner über die anzusetzenden Gestehungskosten, nicht jedoch über die Vergütung des unternehmerischen Risikos. In den folgenden Schiedsstellenverfahren (beide in Schleswig-Holstein), angestrengt durch den Sozialhilfeträger (B 3 P 6/22 R) bzw. den Einrichtungsträger (B 3 P 7/22 R), wurde das Risiko anhand der IEGUS-Studie „Unternehmerisches Wagnis in der stationären Pflege“ (beauftragt vom Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste, bpa) festgesetzt. Dieser Wert wurde weiter modifiziert und nur auf allgemeine Pflegeleistungen angewendet.

Die Kernaussage beider Urteile des BSG lässt sich wie folgt zusammenfassen: Schiedsstellen müssen eine realistische Gewinnchance ermöglichen. Hierbei ist zwingend ein Vergleich mit anderen Einrichtungen erforderlich.

Die Abbildung der Gewinnchance kann entweder über einen festen umsatzbezogenen Prozentsatz oder unter Zuhilfenahme der Auslastungsquote erfolgen, sofern diese im Vergleich mit den anderen Einrichtungen im jeweiligen Bezugsraum so realistisch angesetzt ist, dass sie bei ordnungsgemäßer Betriebsführung zu einem angemessenen Unternehmensgewinn führen kann. Die Werte sind so zu bemessen, dass bei ordnungsgemäßer Betriebsführung ein angemessener Unternehmensgewinn verbleiben kann. Hierbei, so das BSG, sind die Bemessungsansätze auch mit anderen Einrichtungen zu vergleichen. Weiter hat das BSG (in Abkehr von seinem Urteil vom 26. September 2019 – B 3 P 1/18 R) entschieden, dass die Angemessenheit einer Vergütung für Unterkunft und Verpflegung nach den gleichen Maßgaben zu beurteilen ist wie die Angemessenheit der Pflegesätze. Somit ist die Gewinnchance (als Faktor) nicht nur auf die Kosten der allgemeinen Pflegeleistungen anzuwenden, sondern hat alle prospektiven Kosten zu erfassen, auch die Kosten für Unterkunft und Verpflegung.
 

Kalkulation der Kosten und Anforderungen an die Darlegung (B 3 P 2/22 R)

In diesem Fall aus Niedersachsen liegt bis dato nur der Terminbericht und nicht der Volltext vor, sodass die rechtliche Analyse nur eingeschränkt möglich ist. Auch hier wurde wie in den beiden anderen Urteilen über die Notwendigkeit eines Gewinnzuschlags gestritten. Eine signifikant andere Begründung des Gerichts als in den beiden vorgenannten Verfahren dürfte nicht zu erwarten sein.

Darüber hinaus urteilte das BSG in diesem Fall, dass für das Schiedsstellenverfahren der Untersuchungsgrundsatz gilt. Nicht ausschlaggebend ist, ob die Verhandlungsparteien einen Sachverhalt als „geeint“ betrachten. Die Schiedsstelle ist vielmehr zur – gerichtlich nur beschränkt überprüfbaren – eigenen Überzeugungsbildung verpflichtet. Von einer eigenen Ermittlung darf die Schiedsstelle nur absehen, wenn keine Zweifel an dem Vorbringen eines Verhandlungspartners besteht und keine substantiierten Zweifel durch die Gegenseite geweckt werden. Die Schiedsstelle ist berechtigt, die Wirtschaftlichkeit und Leistungsfähigkeit einer Einrichtung zu beurteilen. Eine reine Kostenkalkulation reicht hierzu in der Regel nicht aus, sodass auch weitere Unterlagen angefordert werden können. Fehlen erforderliche Unterlagen, so sind diese von der Schiedsstelle unter Fristsetzung anzufordern. Kommt die Einrichtung einer ermessensfehlerfreien Aufforderung zur Plausibilisierung und Nachweisführung nicht nach, kann die Schiedsstelle zuungunsten der Einrichtung entscheiden.
 

Fazit

Die Präzisierungen des Bundessozialgerichts sind überfällig und grundsätzlich zu begrüßen. Es kann nicht oft genug betont werden, dass die „realistische Gewinnchance“ nicht zur Anhäufung von Vermögen („goldene Wasserhähne“) dienen soll. Vielmehr entspricht es dem Wesen unternehmerischen Handelns, dass Gewinne erforderlich sind, um anfallende Verluste auszugleichen, überraschende und unkalkulierbare Ereignisse abzufedern und den Unwägbarkeiten des Lebens begegnen zu können. Anders formuliert: Ohne Gewinnchance kann keine Einrichtung dauerhaft eigenständig existieren. Glücklicherweise hat das Bundessozialgericht diese existenzielle Notwendigkeit erkannt und der Schiedsstelle aufgegeben, über die Gewinnchance nach pflichtgemäßem Ermessen ohne Bindung an ein bestimmtes bundesrechtlich vorgegebenes Verfahren zu entscheiden. Auch wenn die genaue Bemessung der Gewinnchance, so zeigt es die Praxis schon jetzt, weiterhin Anlass zum Streit bietet, so sehen wir die Rechtsauffassung gestärkt, dass die Schwierigkeit der Bemessung nicht zum Verwehren der Gewinnchance führen darf, sondern die Schiedsstelle vielmehr die Gewähr auf eine Gewinnchance übernehmen muss. Die Entscheidung des BSG war dringend notwendig, da sie dem „Tod auf Raten“ eine Absage erteilt und den Einrichtungen die Möglichkeit gibt, anfallende Verluste – auch durch Unvorhergesehenes – durch Gewinne auszugleichen.

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