Die umsatzsteuerliche Organschaft hat insbesondere für Unternehmen mit eingeschränktem Vorsteuerabzug erhebliche Bedeutung. Insofern wurde mit Spannung die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu zwei Vorabentscheidungsersuchen erwartet, in denen der Bundesfinanzhof (BFH) mehrere Fragen zu den deutschen Regelungen zur umsatzsteuerlichen Organschaft vorgelegt hatte (siehe Solidaris Information 2/2022). Der EuGH hat hierzu nun am 1. Dezember 2022 mit zwei Urteilen (C-141/20 und C-269/20) entschieden.
In den Entscheidungen des EuGH ging es insbesondere um folgende Sachverhalte:
Rechtssache C-141/20
Das Urteil des EuGH ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Finanzamt Kiel und einer in Deutschland ansässigen GmbH. Die GmbH hat zwei Gesellschafter A und B, die zu 51 % bzw. 49 % an der GmbH beteiligt sind. Gemäß Gesellschaftsvertrag der GmbH hat jeder Gesellschafter in der Gesellschafterversammlung 7 Stimmen. Im Rahmen einer Außenprüfung kam der Betriebsprüfer zu dem Schluss, dass das Kriterium der finanziellen Eingliederung hinsichtlich der GmbH in das Unternehmen von A nicht erfüllt sei.
Begründet wurde diese Auffassung damit, dass aufgrund der Regelung im Gesellschaftsvertrag, nach der jeder Gesellschafter 7 Stimmen hat, A als Mehrheitsgesellschafter nicht über eine Stimmenrechtsmehrheit verfüge. Damit ist der Mehrheitsgesellschafter nach Auffassung des Finanzamtes nicht in der Lage gewesen, Beschlüsse bei der GmbH durchzusetzen. Die von der GmbH erzielten Umsätze gegenüber Dritten und aus den Leistungen gegenüber A seien daher bei der GmbH als Unternehmerin im Sinne des § 2 Abs. 1 UStG zu erfassen.
Das Finanzamt folgte der Auffassung des Prüfers. Gegen den ergangenen Bescheid legte die GmbH Einspruch ein, der vom Finanzamt zurückgewiesen wurde. In der Folge erhob die GmbH Klage gegen die Entscheidung. Das Finanzgericht Schleswig-Holstein gab der Klage statt und entschied, dass die Voraussetzungen für die finanzielle Eingliederung der GmbH in das Unternehmen von A erfüllt seien. Es bezog sich dabei auf die Rechtsprechung des EuGH, nach der ein Unterordnungsverhältnis zwischen einer Organgesellschaft und einem Organträger nicht notwendige Voraussetzung für die Bildung einer Organschaft ist. Das vom Finanzamt aufgestellte Erfordernis, der Organträger müsse zusätzlich zu der Mehrheitsbeteiligung über eine Stimmrechtsmehrheit verfügen, gehe über das hinaus, was zur Erreichung der Ziele der Verhinderung missbräuchlicher Praktiken oder Verhaltensweisen und der Bekämpfung von Steuerhinterziehung oder -umgehung geeignet und erforderlich sei. Gegen dieses Urteil legte das Finanzamt Revision beim BFH ein.
Der BFH setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH insgesamt vier Vorlagefragen vor.
- Bezüglich der ersten Vorlagefrage erklärte der EuGH, dass die deutsche Regelung, nach der bei einer umsatzsteuerlichen Organschaft der Organträger als einziger Steuerpflichtiger gilt, der Regelung der Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie nicht entgegenstehe, wenn der Organträger in der Lage sei, seinen Willen gegenüber den Organgesellschaften durchzusetzen, und durch die Bestimmung des Organträgers als einzigen Steuerpflichtigen keine Gefahr für Steuerverluste bestehe.
- Die zweite Vorlagefrage war aus Sicht des EuGH nicht zu beantworten. Hinsichtlich der dritten Vorlagefrage stehe die deutsche Regelung, nach der für das Vorliegen der finanziellen Eingliederung neben der Mehrheitsbeteiligung auch eine Stimmrechtsmehrheit erforderlich ist, der unionsrechtlichen Regelung entgegen. Das Erfordernis der Stimmenmehrheit stelle nicht von vornherein eine Maßnahme dar, die zur Erreichung der Ziele der Verhinderung missbräuchlicher Praktiken oder Verhaltensweisen und der Bekämpfung von Steuerhinterziehung oder -umgehung erforderlich und geeignet sei. Daher könne das Erfordernis der Stimmenmehrheit aufgrund der unionsrechtlichen Regelungen nicht verlangt werden.
- Und schließlich hat der EuGH im Rahmen der vierten Vorlagefrage entschieden, dass es einem Mitgliedsstaat nicht gestattet ist, Organgesellschaften als nicht selbständig anzusehen. Begründet wird dies vom EuGH damit, dass die Organgesellschaften die mit ihrer jeweiligen wirtschaftlichen Tätigkeit einhergehenden wirtschaftlichen Risiken selbst tragen. Es sei davon auszugehen, dass sie einer selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit nachgingen und daher nicht aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einem Organkreis als nicht selbständig im Sinne des Unionsrechts eingestuft werden könnten.
Bei den Entscheidungen zur dritten und vierten Vorlagefrage wird ersichtlich, dass die Regelungen des deutschen Umsatzsteuergesetzes bzw. der Rechtspraxis nicht mit dem Gemeinschaftsrecht konform sind: Die nationalen Vorschriften zur finanziellen Eingliederung sind zu restriktiv. Der EuGH sieht kein Erfordernis für eine gleichzeitige Mehrheitsbeteiligung und Stimmrechtsmehrheit, um die finanzielle Eingliederung zu bejahen. Hier besteht demnach Handlungsbedarf für den deutschen Gesetzgeber – eine Umsetzung der Regelungen des Gemeinschaftsrechts in nationales Recht würde Erleichterungen beim Kriterium der finanziellen Eingliederung mit sich bringen.
Eine gewisse Brisanz hat die Entscheidung zur vierten Vorlagefrage: Dürften Organgesellschaften nicht mehr als unselbständig behandelt werden, wäre die Nichtsteuerbarkeit von Umsätzen innerhalb des Organkreises grundsätzlich in Frage gestellt. Für Unternehmen, die nicht oder nur sehr eingeschränkt zum Vorsteuerabzug berechtigt sind – wie das im Bereich der Gesundheits- und Sozialwirtschaft sehr häufig der Fall ist – hätte dies möglicherweise weitreichende finanzielle Konsequenzen.
Rechtssache C-269/20
Das Vorabentscheidungsersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Finanzamt und einer in Deutschland ansässigen Stiftung öffentlichen Rechts. Die Stiftung ist Trägerin eines Bereichs der Universitätsmedizin und gleichzeitig Organträgerin der U-GmbH. Die entgeltlich ausgeführten Dienstleistungen unterliegen der Umsatzsteuer, während die Tätigkeiten, die die Stiftung im Rahmen der Wahrnehmung ihrer hoheitlichen Aufgaben ausführt, nicht als steuerpflichtig gelten. Die U-GmbH erbrachte für die Stiftung Reinigungs-, Hygiene- und Wäschereileistungen sowie Krankentransportleistungen. Die Reinigungsleistungen wurden sowohl für den eigentlichen Krankenhausbereich, also den wirtschaftlichen Tätigkeitsbereich, als auch für Hörsäle und Labore, also für die Ausbildung der Studenten genutzte Räumlichkeiten und somit für den hoheitlichen Bereich, erbracht.
Nach Ansicht des Finanzamts lösen die Reinigungsleistungen, die für den hoheitlichen Bereich erbracht werden, eine unentgeltliche Wertabgabe gemäß § 3 Abs. 9a Nr. 2 UStG aus. Das Finanzamt erließ hierauf einen geänderten Umsatzsteuerbescheid und erhöhte die Bemessungsgrundlage um die unentgeltliche Wertabgabe. Die Stiftung legte gegen den geänderten Bescheid Einspruch ein, der vom Finanzamt zurückgewiesen wurde. Daraufhin erhob die Stiftung Klage, der vor dem zuständigen Finanzgericht stattgegeben wurde. Das Finanzamt legte Revision beim BFH ein.
Auch in diesem Fall hat der BFH das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH zwei Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.
- Die erste Vorlagefrage in der Rechtssache C-269/20 stimmt inhaltlich mit derjenigen der Rechtssache C-141/20 überein und wurde vom EuGH gleichlautend beantwortet.
- Bei der zweiten Vorlagefrage geht es um die Erbringung von Dienstleistungen einer Organgesellschaft an den hoheitlichen Bereich des Organträgers und die Frage, ob eine unentgeltliche Wertabgabe – mit den entsprechenden steuerlichen Konsequenzen – vorliegt. Dies hat der EuGH verneint, mit der Begründung, dass die Organträgerin für die Leistungen der U-GmbH ein Entgelt gezahlt hat, und zwar sowohl im Bereich ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit als auch im Bereich ihrer hoheitlichen Tätigkeit. Es liegt somit keine unentgeltliche Wertabgabe vor.
Praxis-Hinweis
Insbesondere die Aussage des EuGH zur Selbständigkeit der Organgesellschaften führt zu Unsicherheit hinsichtlich der Nichtsteuerbarkeit der Umsätze innerhalb eines umsatzsteuerlichen Organkreises. Zur Steuerbarkeit von Innenumsätzen trifft der EuGH jedoch keine weiteren Aussagen. Im deutschen Umsatzsteuergesetz sind aktuell Umsätze innerhalb eines Organkreises als Innenumsätze nicht steuerbar, und dies ist, bis gegebenenfalls weitere höchstrichterliche Entscheidungen hierzu getroffen werden, als gesetzliche Grundlage für die steuerliche Behandlung von Innenumsätzen maßgebend.
Solange die Finanzgerichte, insbesondere der Bundesfinanzhof, diese Fragestellungen nicht weiter verfolgen oder der Gesetzgeber von sich aus tätig wird, besteht zwar kein unmittelbarer Handlungsbedarf. Dennoch könnte es ratsam sein, umsatzsteuerliche Organschaften im Hinblick auf das Vorliegen von möglichen umsatzsteuerlich relevanten Selbständigkeiten der Organgesellschaften im Einzelfall zu analysieren und mögliche Handlungsalternativen zu diskutieren.