Zukunftsfähige Neuausrichtung ambulanter Pflegeeinrichtungen – Teil II
Um im wachsenden, aber stark umkämpften Pflegemarkt auch zukünftig erfolgreich bestehen zu können, müssen sich ambulante Pflegeeinrichtungen rechtzeitig neu positionieren. Im ersten Teil unseres Beitrags (siehe Solidaris-Information 1/2018) haben wir verschiedene rechtliche Organisationsstrukturen, derer sich ein ambulanter Pflegedienst bedienen kann, näher beleuchtet. In einem weiteren Schritt bietet die sogenannte Wirtschaftlichkeitsbetrachtung die Möglichkeit, wirtschaftliche und organisatorische Schwächen zu erkennen und entsprechende Handlungs-maßnahmen einzuleiten.
Die Beratungspraxis zeigt, dass eine Vielzahl ambulanter Pflegeeinrichtungen gänzlich ohne Erhebung, Nutzung und Auswertung betriebswirtschaftlicher Daten geführt wird. Eine Steuerung, die sämtliche internen Abläufe in ausreichendem Maß berücksichtigt, ist in diesen Einrichtungen nur bedingt möglich. Dies kann zur Folge haben, dass sowohl positive als auch negative Entwicklungstendenzen zu spät, im schlimmsten Fall gar nicht erkannt werden und man quasi „dem Markt hinterherläuft“, da negative Entwicklungstendenzen unerkannt bleiben.
Dieses fehlende Steuerungsvermögen war in der Vergangenheit oftmals unschädlich, und zwar in all den Fällen, in denen die Sozialstation über ausreichend Liquidität und Eigenkapital verfügte. Die Aufrechterhaltung von Liquidität und Eigenkapital korreliert aber unweigerlich mit einer beständigen bzw. wachsenden Zahl an Mitarbeitern und Klienten. Und genau dieses Gefüge gerät aufgrund des zunehmenden Konkurrenzdrucks sowie aufgrund der Tarifbindung, der viele Einrichtungen unterworfen sind (unzureichende Ausfinanzierung der Personalkosten), in jüngerer Zeit zunehmend in Schieflage. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, streben viele Sozialstationen an, verbandsunabhängige Vergütungsverhandlungen mit den Kostenträgern zu führen. Dies ist sicherlich ein gangbarer Weg, um die Ausfinanzierung der einrichtungsindividuellen Kosten sicherzustellen. Im Ergebnis ist diese Maßnahme jedoch nur eingeschränkt zielführend, da internes Entwicklungspotential weiterhin ungenutzt bleibt.
Um dieses Potential zu erkennen und für die Einrichtung nutzbar zu machen, empfiehlt es sich, in den vier Kernbereichen Finanzen, Prozesse, Mitarbeiter und Klienten entscheidungsrelevante Kennzahlen zu ermitteln und auszuwerten. Handlungsbedarf besteht überall dort, wo mit Hilfe eines Soll-Ist-Vergleichs wesentliche Abweichungen festzustellen sind und dies auch im Widerspruch zur strategischen Ausrichtung des Pflegedienstes steht. Eine Auswahl wesentlicher Kennzahlen stellen wir nachfolgend beispielhaft vor.
Im Bereich Finanzen stehen die Kennzahlen Ausschöpfungsgrad der Pflegesachleistung sowie Deckungsbeitrag im Vordergrund.
- Der Ausschöpfungsgrad der Pflegesachleistung gibt an, zu welchem Anteil der von Seiten der Pflegekassen ge-währte Höchstbetrag je Pflegegrad tatsächlich durch den Klienten in Anspruch genommen wird. Ein niedriger Aus-schöpfungsgrad ist ein Indiz dafür, dass Leistungen, die dem Klienten zustehen, besser „verkauft“ werden müssen. Dies kann beispielsweise dadurch geschehen, dass der Klient oder seine Angehörigen im Rahmen eines erneuten Beratungsbesuchs hierzu gezielt beraten werden.
- Der Deckungsbeitrag stellt die Differenz zwischen den aus dem Kerngeschäft erwirtschafteten ambulanten Pflegeer lösen und den Personalkosten des Pflegepersonals dar. Die Überdeckung sollte die Fixkosten für den Overhead (Leitung, Verwaltung) sowie die Sachkosten decken und nach Möglichkeit einen Überschuss (Ref.-Wert: 5 % des Umsatzes) erwirtschaften. Die nachfolgende Abbildung gibt die Stufenfolge der Deckungsbeitragsrechnung wieder.
Als wesentliche Kennzahlen im Bereich Prozesse sind die durchschnittliche Organisationszeit je Klientenbesuch sowie die Korrelation zwischen Pflegeerlösen und Pflegezeiten zu nennen.
- Die Organisationszeit umfasst den „unproduktiven“ Anteil an der Arbeitszeit, z. B. Zeiten für Übergabe, Pflegedokumentation oder Kfz-Pflege. Diese sollten nicht über einen Referenzwert von 8 % (gemessen an der Gesamteinsatz-zeit) hinausreichen. Das Einhalten dieser Zeitvorgabe sollte anhand der Tourenanalyse bzw. Zeiterfassung regelmäßig kontrolliert werden.
- Die Entwicklung der Pflegeerlöse sollte zu der Entwicklung der Pflegezeiten parallel verlaufen, da das Generieren von Mehrerlösen regelmäßig mit einem Anstieg der aufgewendeten Pflegezeiten einhergeht. Eine beispielhafte Auswertung zeigt die obenste-hende Abbildung. Ein Überkreu¬zen der Linien oder ein scheren-gleiches Öffnen ist als Indiz für eine mangelnde Steuerung der Einsätze zu werten. Bleiben bei¬spielsweise die Umsatzerlöse in unveränderter Höhe bestehen, obgleich die Netto-Arbeitszeiten ansteigen, so kann die erbrachte Mehr-Arbeitszeit als Indiz für einen höheren Pflegebedarf zu werten sein, der bislang nicht zur Abrechnung gebracht wurde (oder es werden sog. heimliche Leistungen erbracht). Dieses Analysetool sollte auch dazu genutzt werden, um Defizite in der Personaleinsatz- bzw. Tourenplanung zu erkennen.
Im Bereich Mitarbeiter sind insbesondere die Kennzahlen Leitungsquote und Krankheitsquote steuerungsrelevant.
- Für die Leitungsquote sollte ein Referenzwert zwischen 10 % und 14 % (in Relation zu den Produktivkräften) an-gestrebt werden. Für typische (PDL-)Leitungsaufgaben wie Pflegevisiten, Erst- und Folgebesuche, Beratungsbe-suche, Personaleinsatzplanung, Tourenanalyse, Mitarbeiterführung und Jahresgespräche, Qualitätsmanagement und Gremienarbeit muss ein ausreichendes Maß an Per¬sonalressourcen vorgehalten werden. Hier sollte darauf geachtet werden, dass bei der Quotenermittlung nur solche Zeiten miteinbezogen werden, die auch tatsächlich auf typische Leitungsaufgaben entfallen.
- Die Krankheitsquote kann als Instrument der Personal-einsatzplanung genutzt werden und dient gleichzeitig als Indikator für eine „Über-Auslastung“ der Mitarbeiter. Als Referenzwert sollte im Jahresmittel eine Krankheitsquote von 4 % nicht überschritten werden. Eine stets überdurchschnittlich hohe Krankheitsquote kann auch ein Indiz für einen zu geringen Personalbestand sein.
Im Bereich Klienten haben sich die Kennzahlen Anteil an gemischten Hausbesuchen sowie Entwicklung der Klienten mit Beratungsbesuchen bewährt.
- Werden bei Einsätzen sowohl SGB V- als auch SGB XI-Leistungen erbracht, so entstehen Synergieeffekte, da bestimmte Verrichtungen (z. B. Begrüßung, An- und Auskleiden des Klienten, Dokumentation) nur einmal durchgeführt werden müssen, diese Tätigkeiten jedoch sowohl im SGB V- als auch im SGB XI-Bereich mitvergütet werden. Im Jahresmittel sollte sich der prozentuale Anteil an gemischten Hausbesuchen auf mindestens 20 % belaufen.
- Die Anzahl und Entwicklung der Beratungsbesuche nach § 37 Abs. 3 SGB XI sollte im Fokus stehen, wenn es darum geht, den Klientenstamm zu erweitern. Die Klientenbindung, die durch die Beratungsbesuche entsteht, sollte nach und nach intensiviert und insbesondere wertgeschätzt werden, da es sich bei jenen Klienten um potentielle Neukunden handelt, die somit nicht neu akquiriert werden müssen.
Die Praxis zeigt, dass durch die Erhebung von Kennzahlen in den oben genannten Bereichen sowohl Defizite als auch Potentiale aufgedeckt werden können, die maßgeblichen Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung der ambulanten Pflegeeinrichtung haben. Langfristig gesehen sollten die genannten Erhebungs-, Analyse- und Handlungsprozesse im Rahmen eines automatisierten Berichtswesens etabliert werden. Mit Hilfe eines solchen umfassenden Controllinginstruments lassen sich alle Unternehmensbereiche zeitnah und fundiert steuern. Des Weiteren können die hierdurch gewonnenen Erfahrungswerte nutzbringend für zukünftig angestrebte Einzelverhandlungen verwendet werden.
Praxis-Hinweis
Die Einführung eines Berichtswesens, mit dessen Hilfe sich fundierte und valide Aussagen über Ent-wicklungen in den Bereichen Finanzen, Prozesse, Mitarbeiter und Klienten generieren lassen, trägt bei konsequenter Umsetzung zur Ausschöpfung brachliegender Potentiale bei und sorgt somit für ein wirtschaftlich-effizienteres Handeln. Die zukunftsfähige Neuausrichtung Ihrer Einrichtung beginnt mit dem Aufarbeiten und dem Neubewerten interner Strukturen und Abläufe.