In der Instanzenrechtsprechung zeichnet sich eine Änderung zu der Frage ab, ob ein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX auch vor einer Kündigung in der Wartezeit (oft als Probezeit bezeichnet) durchzuführen ist. Das Landesarbeitsgericht (LAG) Köln (Urteil vom 12. September 2024 – 6 SLa 76/24) hat sich dabei der Ansicht des Arbeitsgerichts (ArbG) Köln und des ArbG Freiburg angeschlossen, dass das Präventionsverfahren auch während der Wartezeit durchgeführt werden muss.
Der Fall
Ein 1984 geborener Mitarbeiter, der mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 80 als schwerbehindert gilt, wurde am 1. Januar 2023 von der Beklagten eingestellt. Sowohl bei Ausführung der unterschiedlichen Aufgaben als auch in der Zusammenarbeit mit Kollegen kam es wiederholt zu Problemen. Nach einer längeren Krankheitsphase kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis Ende Juni 2023 mit einer ordentlichen Kündigung zum 31. Juli 2023. Vor der Kündigung wurden der Personalrat, die Schwerbehindertenvertretung und die Gleichstellungsbeauftragte angehört, ein Präventionsverfahren wurde vor Ausspruch der Kündigung nicht eingeleitet.
Der Mitarbeiter klagte gegen die Kündigung, und das ArbG Köln (Urteil vom 20. Dezember 2023 – 18 Ca 3954/23) gab ihm zunächst Recht, da insbesondere das fehlende Präventionsverfahren die Vermutung einer Kündigung wegen der Behinderung begründe, was wegen des Diskriminierungsverbots zur Unwirksamkeit der Kündigung führe. Gegen das Urteil legte die Beklagte Berufung ein.
Die Entscheidung
Das LAG Köln hob das Urteil auf und wies die Klage ab, stellte allerdings wie schon zuvor das ArbG Köln und ArbG Freiburg (Urteil vom 4. Juni 2024 - 2 Ca 51/24) fest, dass das Präventionsverfahren bei Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis auch während der Wartezeit verpflichtend durchzuführen sei. Wenn das Präventionsverfahren nicht durchgeführt werde, könne dies nach § 22 AGG die Vermutung begründen, dass eine Kündigung wegen der Behinderung ausgesprochen wurde, was wegen des Diskriminierungsverbots zur Unwirksamkeit der Kündigung nach § 164 Abs. 2 SGB IX in Verbindung mit § 134 BGB führe. Hiermit folgt das LAG Köln wie schon die Vorinstanz und das ArbG Freiburg nicht der bisherigen Rechtsprechung des BAG (Urteil vom 21. April 2016 – 8 AZR 402/14). Dieses sieht keine Pflicht für ein Präventionsverfahren innerhalb der Wartezeit, da § 167 Abs. 1 SGB IX mit dem Begriff der „personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Schwierigkeiten“ an die Terminologie des § 1 Abs. 2 KSchG anknüpfe. Somit diene das Präventionsverfahren dazu, dem Entstehen von Kündigungsgründen vorzubeugen. In der Wartezeit werde allerdings kein nach dem KSchG anerkannter Kündigungsgrund vorausgesetzt, und auch der schwerbehindertenrechtliche Sonderkündigungsschutz entstehe erst nach Ablauf der Wartezeit, so dass es zum einen widersprüchlich und zum anderen nicht praktikabel wäre, Arbeitgeber zum Präventionsverfahren zu verpflichten.
Nach Ansicht des LAG Köln überzeugt diese Rechtsauffassung nicht, da sich eine zeitliche Beschränkung nicht aus dem Wortlaut der Vorschrift ergäbe, da der Gesetzgeber – sofern er eine zeitliche Beschränkung gewollt hätte – diese, so wie in der entsprechenden Vorschrift zum Zustimmungserfordernis zur Kündigung nach der Wartezeit in § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB IX auch geschehen, ausdrücklich geregelt hätte. Zudem sei eine zeitliche Einschränkung europarechtswidrig, da eine generelle Beschränkung des Anwendungsbereichs von § 167 Abs. 1 SGB IX auf Arbeitsverhältnisse nach Ablauf der kündigungsschutzrechtlichen Wartefrist den Anforderungen nach Art. 5 RL 2000/78 nicht genügen könne. Unschädlich sei zudem, dass das Präventionsverfahren möglicherweise vor Ablauf der Wartezeit und Ausspruch einer Kündigung nicht abgeschlossen werden könne, sofern es mit der ernsthaften Absicht einer Problembeseitigung eingeleitet werde. Im Ergebnis hob das LAG Köln das erstinstanzliche Urteil dennoch auf und wies die Klage ab, da die Vermutung einer Diskriminierung durch die dokumentieren Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis entkräftet wurde. Die Revision zum BAG wurde zugelassen.
Praxis-Hinweis
Vor Ausspruch einer Kündigung eines schwerbehinderten Menschen ist der Arbeitgeber auch während der Wartezeit verpflichtet, die Schwerbehindertenvertretung sowie den Betriebs- bzw. Personalrat oder die Mitarbeitervertretung anzuhören. Nicht erforderlich ist es, die Zustimmung des Integrationsamtes einzuholen, diese ist erst nach Ablauf der Wartezeit erforderlich. Da inzwischen mehrere Arbeitsgerichte vor Ausspruch einer Kündigung ein Präventionsverfahren auch während der Wartezeit mit guter Begründung für erforderlich halten und sich hier eine Änderung der Rechtsprechung abzeichnet, empfiehlt es sich, dieses bis zu einer Klarstellung durch das BAG durchzuführen. Hier dürfte es ausreichen, dass das Präventionsverfahren vor Ausspruch einer Kündigung mit ernsthafter Absicht zumindest eingeleitet wurde. Zwar ist eine Kündigung ohne vorheriges Präventionsverfahren nicht per se unwirksam, allerdings kann hierdurch die Vermutung einer Diskriminierung begründet werden, so dass der Arbeitgeber diese Vermutung widerlegen muss, da die Kündigung andernfalls wegen des Diskriminierungsverbots nach § 164 Abs. 2 SGB IX in Verbindung mit § 134 BGB unwirksam wäre. Spannend bleibt, ob das BAG in dem anhängigen Revisionsverfahren seine bisherige Rechtsprechung zur Nichterforderlichkeit eines Präventionsverfahrens bei einer Wartezeitkündigung bestätigt oder ändert.