1. Pflege
Der Koalitionsvertrag sieht zum einen kurzfristige Maßnahmen vor, die voraussichtlich recht bald in diesem Jahr umgesetzt werden (das Ergebnispapier der Verhandlungsgruppe sprach noch von den ersten 100 Tagen): Dies betrifft vor allem die Stärkung der Pflegeberufe, etwa durch erweiterte Kompetenzen der Pflegenden einschl. der Einführung der „Advanced Practice Nurse“ und die Vereinheitlichung der bisher in den Bundesländern unterschiedlich ausgestalteten Pflegeassistenzberufen. Die in der vergangenen Legislaturperiode nicht mehr zustande gekommenen Gesetze, die im Wesentlichen auch unter den jetzigen Koalitionären einigungsfähig sind, sollen nun in einem neuen Anlauf schnell umgesetzt werden. Daneben wird der „kleine Versorgungsvertrag“, ein probates Instrument der pflegerischen Versorgung von Ordensangehörigen, besser abgesichert.
Zum anderen stehen Langfristprojekte an, vor allem eine große Pflegereform. Dazu wird eine Bund-Länder-Kommission Vorschläge erarbeiten; die Ergebnisse sollen noch im Jahr 2025 präsentiert werden. Die gesetzgeberische Umsetzung wird dann frühestens im Jahr 2026 zu erwarten sein. Der Koalitionsvertrag gibt der Kommission eine Reihe von Arbeitsaufträgen. Die drei wichtigsten Punkte seien hier herausgegriffen:
Die Eigenanteile in der stationären Pflege sollen begrenzt werden. Ob es zu einem Sockel-Spitze-Tausch kommt oder zu einer anderen Form der Begrenzung, steht bislang nicht fest. Hier wird man die Arbeit der Kommission abwarten müssen.
Sektorenübergreifende Versorgungskonzepte, wie z.B. das „Stambulant“-Projekt, bisher nur über Experimentierklauseln im SGB XI und dem jeweiligen Landesheimgesetz geduldet, sollen in die Regelversorgung übergeleitet und so für weitere Anbieter geöffnet werden.
Versicherungsfremde Leistungen sollen aus der Finanzierung im SGB XI herausgenommen und in die Steuerfinanzierung überführt werden. Das betrifft auch die Ausbildungsumlagen.
2. Stationäre Versorgung
- Die Krankenhausreform wird fortgeführt und bis zum Sommer 2025 gesetzlich geregelt, aber
den Ländern werden zur Sicherstellung der Grund- und Notfallversorgung (Innere Medizin, Chirurgie, Gynäkologie und Geburtshilfe) Ausnahmen und erweiterte Kooperationen ermöglicht;
die Lücke bei den Sofort-Transformationskosten aus den Jahren 2022 und 2023 sowie der GKV-Anteil des Transformationsfonds wird aus dem Sondervermögen Infrastruktur bereitgestellt;
die (für die Versorgung relevanten) Fachkliniken sollen in den Ländern erhalten bleiben, das Belegarztwesen wird ebenfalls erhalten und verbessert;
die Zuweisung der Leistungsgruppen (LG) erfolgt zum 1. Januar 2027 auf Basis der 60 LG aus NRW zuzüglich der LG Traumatologie, der InEK-Grouper zu diesen LG wird für die Abrechnung verwendet, die LG bleiben bis zur Evaluation erhalten;
die Zwischenfristen zur Umsetzung der Krankenhausreform werden angepasst;
In Abhängigkeit des „medizinisch Sinnvollen“ sollen die Leistungsgruppen bezüglich der Leistungs- und/oder Qualitätsvorgaben angepasst werden, dies soll in gleicher Weise auch für die Anrechenbarkeit des ärztlichen Dienstes je Leistungsgruppe gelten (Vollzeitäquivalent: 38,5 Stunden);
die Konvergenzphase wird auf drei Jahre verlängert und das Jahr 2027 für alle Krankenhäuser erlösneutral ausgestaltet;
die Vorhaltevergütung wird in zwei Schritten eingeführt. In Bundesländern, die bis zum 31.12.2024 LG zugewiesen haben (Lex NRW), bleiben diese rechtswirksam und werden als Basis für die Vergütung ab 2026 genutzt. Die Übergangsregelung gilt bis zum 31. Dezember 2030 und soll zu keiner Schlechterstellung führen.
3. Ambulante Versorgung
Ein Schwerpunkt der künftigen Koalition ist offenbar eine schnellere Terminvergabe für – notwendige – Arztbesuche. Insoweit soll(en)
ein verbindliches Primärarztsystem bei freier Arztwahl durch Haus- und Kinderärzte (Ausnahmen für Augenheilkunde und Gynäkologie) in der hausarztzentrierten Versorgung und im Kollektivvertrag etabliert werden.
es für „Chroniker“ Sonderlösungen geben (z.B. Jahresüberweisungen oder Fachinternist als steuernder Primärarzt);
die Primärärzte (oder die von den Kassenärztlichen Vereinigungen betriebene Rufnummer 116 117) die Notwendigkeit und Zeitkorridor für einen Facharzttermin festlegen. Wenn eine Terminvermittlung durch die KV nicht gelingt, soll eine ambulante Behandlung im Krankenhaus möglich werden;
eine strukturierte Ersteinschätzung digital (telemedizinisch) ermöglicht werden;
die Honorarsystematik dahingehend geändert werden, die Anzahl nicht bedarfsgerechter Arztkontakte zu reduzieren. Der Quartalsbezug soll flexibilisiert werden, um neuen Patienten einen besseren Zugang und die Vergütung von Praxis-Patientenkontakten zu ermöglichen.
Die sektorenübergreifende Versorgung soll durch eine Weiterentwicklung und den Ausbau der Hybrid-DRGs gestärkt werden.
Investorenbetriebene MVZ sollen insoweit reguliert werden, als Transparenz über die Eigentümerstruktur besteht und eine systemgerechte Verwendung der Beitragsmittel sichergestellt ist.
Die Bedarfsplanung soll insgesamt kleinteiliger werden. Zudem sollen die Zugänge in den ambulanten Sektor wie folgt angepasst werden:
die Länder erhalten in den Zulassungsausschüssen die ausschlaggebende Stimme;
es soll ein Fairnessausgleich zwischen über- und unterversorgten Gebieten geschaffen werden. Eine Entbudgetierung von Fachärzten in unterversorgten Gebieten wird geprüft. Universitäre Lehrpraxen können in unterversorgten Gebieten leichter etabliert werden. Zudem wird es abhängig vom Grad einer (drohenden) Unterversorgung Zuschläge und bei Überversorgung Honorarabschläge geben. In diesem Kontext ist es wohl beabsichtigt, den Versorgungsauftrag durch den Bund zu definieren.
die Bedarfsplanung für Zahnärzte soll durch die Länder vorgenommen werden.
Die Kompetenz der Gesundheitsberufe soll gestärkt und die Weiterbildung, insbesondere in den Bereichen Allgemeinmedizin sowie Kinder- und Jugendmedizin, weiterentwickelt werden.
Ärzte im Bereitschaftsdienst der Krankenversicherung sollen sozialversicherungsfrei tätig werden können.
Patientenrechte sollen gestärkt und das Hospiz- und Palliativgesetz weiterentwickelt werden.
4. Einordnung
Generell ist festzuhalten, dass eine fundierte Auseinandersetzung mit den (beabsichtigten) Vorhaben erst erfolgen kann, wenn die konkreten Gesetzesentwürfe zur Diskussion gestellt werden. Allerdings sind Tendenzen und Zwischentöne feststellbar. Insoweit eine erste Einordnung:
Für die Pflege zeichnen sich für eine erste Einschätzung drei Gruppen ab:
Manches, was jetzt im Koalitionsvertrag steht, ist längst überfällig und dürfte unumstritten sein: die Stärkung der Pflegeberufe etwa, oder die Verlagerung versicherungsfremder Leistungen in die Steuerfinanzierung. Schade, dass man nicht den Mut hatte, das Bürokratiemonster § 72 Abs. 3a bis 3g SGB XI wieder abzuschaffen, nachdem der Paragraf seine Funktion der Vergütungsnivellierung erreicht hat.
Eine zweite Themengruppe entzieht sich noch der Bewertung, weil die Vorschläge der Bund-Länder-Kommission abgewartet werden müssen. Die dritte Themengruppe fällt auf, weil sie nur marginal behandelt wird: wie wird mehr Personal für die Pflege gewonnen? Dies berührt umstrittene Fragen, wie die eines freiwilligen oder verpflichtenden Dienstes sowie die Anwerbung von Kräften aus dem Ausland.
Die Krankenhäuser (insbesondere in Nordrhein-Westfalen) dürfen wohl ein wenig aufatmen. Die große „Lauterbachsche Reform“ wird hinsichtlich der Umsetzungsschritte wohl etwas entschärft, bleibt im Grunde aber bestehen. Die Krankenhäuser in Nordrhein-Westfalen dürften vor allem über den Umstand erfreut sein, dass lediglich eine weitere Leistungsgruppe eingeführt wird. Auf Zustimmung dürfte auch die Finanzierung der Transformationskosten (Sofort- und GKV-Anteil) durch das Sondervermögen Infrastruktur treffen. Ob die Öffnungsklausel zur Länderkompetenz für die Grund- und Notfallversorgung das Aus für die Level-1i-Krankenhäuser bedeutet, bleibt abzuwarten.
Größere Vorhaben stehen im ambulanten Bereich an, bei denen erkennbar die Stimmung in der Bevölkerung eine Rolle gespielt haben dürfte, die Stimmung der „Nicht-Primärärzte“ dagegen eher nicht. Die Stärkung der Terminservicestellen und (eingeschränkte) Öffnung der Krankenhäuser für die ambulante Behandlung sprechen für sich.
Fragezeichen hinterlassen die Ausführungen zu den sog. iMVZ. Transparenz hinsichtlich der Eigentümerstrukturen ist unseres Erachtens bereits gegeben. Zudem stellt sich die Frage, wie die systemgerechte Verwendung von Beitragsmitteln abhängig vom Rechtsträger eines MVZ ausgestaltet werden soll.
Schließlich bleibt abzuwarten, wie die Länder mit der beabsichtigten Hoheit in den Zulassungsausschüssen umgehen werden. Im Sinne einer guten Versorgung bleibt auf eine maßvolle Einwirkung auf die ärztliche Selbstverwaltung zu hoffen.
Insgesamt bleibt es weiter spannend. Wir werden die Lage für Sie weiter analysieren und die kommenden Gesetzgebungsvorhaben an dieser Stelle kommentieren.