Dem Urteil des EuGH vom 11. Juli 2024 – C-184/23 – vorausgegangen waren zwei ebenfalls vom Bundesfinanzhof (BFH) initiierte Vorabentscheidungsverfahren, in denen die Frage ungeklärt blieb, ob die Umsätze zwischen den Mitgliedsgesellschaften einer umsatzsteuerlichen Organschaft, wie nach den bisherigen deutschen Regelungen, als nicht steuerbar anzusehen sind oder ob die Organgesellschaften umsatzsteuerlich trotz ihrer Zugehörigkeit zum umsatzsteuerlichen Organkreis als selbständig anzusehen und somit auch Innenumsätze der Umsatzsteuer zu unterwerfen sind. Ein weiterer wichtiger Grund für die Anrufung des EuGH in dieser Frage war der Umstand, dass es gerade bei nicht zum Vorsteuerabzug berechtigten Leistungsempfängern zu Steuerverlusten kommen könnte, da in diesen Fällen im Vergleich zum Nicht-Organschaftsfall eine Umsatzbesteuerung von Innenleistungen unterbleibt.
Der V. Senat des BFH legte dem EuGH deshalb zwei Fragen vor, die sinngemäß lauteten:
Unterliegen entgeltliche Leistungen zwischen Mitgliedern einer Mehrwertsteuergruppe nicht der Anwendung der Mehrwertsteuer?
Unterliegen entgeltliche Leistungen zwischen Mitgliedern einer Mehrwertsteuergruppe jedenfalls dann der Mehrwertsteuer, wenn der Leistungsempfänger nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt wäre, da ansonsten die Gefahr von Steuerverlusten besteht?
Der EuGH fasst in seinem Urteil beide Anfragen des BFH zusammen und fußt seine Ausführungen auf den Grundsätzen des europäischen Mehrwertsteuerrechts: Der Mehrwertsteuer unterliegen alle Leistungen, die ein Steuerpflichtiger gegen Entgelt im Inland ausführt. Steuerpflichtiger ist dabei jeder, der definierte wirtschaftliche Tätigkeiten selbständig und unabhängig ausübt. Nach der Rechtsprechung muss zudem zwischen Leistungserbringer und Leistungsempfänger ein Rechtsverhältnis über einen gegenseitigen Leistungsaustausch bestehen, wobei die Vergütung den tatsächlichen Gegenwert für die erbrachte Leistung darstellt. Ob ein solches Rechtsverhältnis vorliegt, ist auch danach zu bestimmen, ob der Leistungserbringer einer selbständigen Wirtschaftstätigkeit nachgeht und auch das wirtschaftliche Risiko trägt. Eine Mehrwertsteuergruppe (= umsatzsteuerliche Organschaft) bildet dazu eine Ausnahme. Den Mitgliedsstaaten steht es nach der Mehrwertsteuersystemrichtlinie frei („Opt-In-Regelung“), rechtlich unabhängige, im Inland ansässige Personen, die durch finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng verbunden sind, als einen Steuerpflichtigen zu behandeln. Die Rechtsprechung des EuGH zieht daraus die Konsequenz, dass die untergeordneten Einheiten der Mehrwertsteuergruppe kein Steuerpflichtiger in Sinne der Richtlinie sein können. Daraus folgt, dass nur die Mehrwertsteuergruppe als solche als Steuerpflichtiger gelten kann. Konsequenterweise können dann Leistungen innerhalb der Mehrwertsteuergruppe keine Leistungen nach außen darstellen und unterfallen damit nicht der Umsatzbesteuerung.
Zur Folgefrage, ob bei Gefahr der Steuergefährdung eine Ausnahme greifen könnte, erinnert der EuGH zunächst daran, dass der Vorsteuerabzug der Mehrwertsteuergruppe als solcher zusteht und nicht den einzelnen Mitgliedern. Die Fragestellung der Steuergefährdung sei daher auf Gruppenebene zu beantworten. Die Möglichkeit, entsprechend der deutschen Regelung statt einer Mehrwertsteuergruppe den Organträger zum einzigen Steuerpflichtigen zu bestimmen, hatte der EuGH indes bereits in seinem Urteil vom 1. Dezember 2022 – C-141/20 – als zulässig erachtet, sofern sichergestellt ist, dass diese Regelung im Hinblick auf die Steuereinnahmen zum gleichen Ergebnis führt, wie wenn die Mehrwertsteuergruppe selbst der Steuerpflichtige wäre. Es kommt somit nicht auf das „Innenleben“ einer Organschaft an, um zu beurteilen, ob eine Steuergefährdung vorliegt. Entgeltliche Leistungen zwischen Mitgliedern einer Mehrwertsteuergruppe unterliegen somit selbst dann nicht der Mehrwertsteuer, wenn die vom Empfänger dieser Leistungen geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer nicht als Vorsteuer abgezogen werden darf.
Der EuGH sieht somit die deutsche umsatzsteuerliche Organschaft in der gelebten Verwaltungspraxis als EU-konforme Umsetzung einer Mehrwertsteuergruppe an, so dass jetzt Rechtssicherheit besteht.
Ausblick
Gerade in Konzernstrukturen der Gesundheits- und Sozialwirtschaft sind umsatzsteuerliche Organschaften als Gestaltungsform bei der Ausgliederung von personalintensiven Dienstleistungen auf Tochtergesellschaften weit verbreitet. Das neue EuGH-Urteil bedeutet daher große Erleichterung für diesen Sektor. Aufgrund der überwiegend umsatzsteuerfreien Ausgangsleistungen, zum Beispiel in Form von Heilbehandlungen oder Pflegeleistungen, hätte die Steuerbarkeit von Innenleistungen zu einem zusätzlichen Kostenfaktor und weiteren Preissteigerungen geführt, denn im Gegensatz zu Organschaften in der gewerblichen Wirtschaft hätte die Umsatzsteuer aus steuerpflichtigen Innenleistungen nicht als Vorsteuer geltend gemacht werden können. Voraussetzung ist natürlich, dass sich der BFH der Beurteilung des EuGH anschließt.
Zu beachten ist aber, dass eine Mehrwertsteuergruppe immer nur im Inland bestehen kann, sie also nicht grenzüberschreitend ausgestaltet werden kann. Außerdem wird die deutsche Variante der Mehrwertsteuergruppe in ähnlicher Weise nur noch in Österreich angewandt. 15 Mitgliedsstaaten sehen die Mehrwertsteuergruppe nur als Option nach der Wahl des Steuerpflichtigen vor. Ob eine hierzu in Fachkreisen diskutierte Änderung des deutschen Umsatzsteuergesetzes mit einer umsatzsteuerlichen Organschaft „auf Antrag“ in näherer Zukunft vom Gesetzgeber angegangen wird, bleibt abzuwarten. Ein derartiges Wahlrecht einschließlich vorheriger Abstimmung mit der Finanzverwaltung könnte größere Rechtssicherheit schaffen und böse Überraschungen im Rahmen von Betriebsprüfungen verhindern, wenn die Finanzverwaltung im Nachhinein das Bestehen einer Organschaft versagt.